Analyse

J. S. Bach: Praeludium I, BWV 846, C-dur

aus: "Das Wohltemperierte Klavier, Bd. I

Schritt 1: Allgemeine Betrachtungen

Die Tonart ist C-dur, die Taktart ist vier Viertel.
Beim Hören und Betrachten des Praeludiums fällt auf, dass (bis auf die letzten drei Takte 33 - 35) eine Struktur vorherrscht. Es handelt sich um einen fünfstimmigen Akkordsatz. Jeder Takt enthält einen Akkord, der zweimal auf die gleiche Weise gebrochen wird.

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Schritt 2: Die größte mögliche Gliederung

Es fällt eine Gliederung in mehrere Teile zunächst nicht "ins Auge". Eine Melodie scheint auf den ersten Blick nicht vorhanden zu sein. Die Untersuchung der Harmonik ist also der nächstliegende Ansatz. Hierzu ist es von Vorteil, der Übersichtlichkeit wegen alles auszublenden, was das Erkennen der Harmonik stört und den Satz auf nicht gebrochene Akkorde zu reduzieren.

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So wird auch die Fünfstimmigkeit deutlicher.

Beim Durchhören der Akkorde fällt auf, dass nur fünf von diesen Dur-Akkorde in Grundstellung sind: jene in T.1, T.4, T.11, T.19 und der letzte Akkord (alle sind in der obigen Akkord-Analyse rot markiert). Wichtig hierbei ist, dass diese in der Grundstellung erklingen. Der erste und letzte Akkord können hier außer Acht gelassen werden: Es sind die Tonikaakkorde, die gewöhnlich an diesen Stellen stehen. Die drei Akkorde im Verlauf des Stückes (in der obigen Analyse rot umrahmt) hingegen haben gliedernde Wirkung:

T.1 - T.4,
T.5 - T.11,
T.12 - T.19 .

Ebenso gliedernd wirken sich jeweils die Orgelpunkte des Dominantgrundtons (T.24 - T.31) und des Tonikagrundtons (T.32 - T.35) aus (in der Grafik unten blau markiert).

Es ergibt sich folgende Gliederung:

Schritt 3: Kleinere Zusammenhänge, genauere Betrachtungen

Die ersten vier Takte bilden einen Bogen, der eine C-dur-Kadenz beinhaltet. Nachdem diese gehört wurde, ist für das Ohr klar, in welcher Tonart das Stück steht.

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Die folgende Gruppe (T.5 - T.11) weicht in die Dominante G-dur aus.

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Die sich anschließende (T.12 - T.19) führt zurück in die Tonika C-dur.

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Die Taktgruppe T.5 - T.11 ist die einzige dieses Praeludiums, die eine ungerade Zahl von Takten beinhaltet, nämlich sieben. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit der folgenden Taktgruppe (T.12 - T.19): Es ist durchaus möglich, sich als zu Grunde liegende Gestalt der Taktgruppe T.5 - T.11 eine achttaktige Einheit vorzustellen, in der Form, dass T.8 zweimal hintereinander erklänge: Einerseits als gewisser Abschluss der vorangehenden Kadenz der Takte 5 - 7 (sozusagen als T.8a: T7 ), andererseits als erster Akkord der Ausweichung nach G-dur der Takte 8 - 11 (sozusagen als T.8b: S7 ). Dann nämlich hat diese nun achttaktige Gruppe eine Takt für Takt passende Entsprechung in den Taktgruppe T.12 - T.19.

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Den beiden Taktgruppen T.5 - T.8a und T.12 - T.15 liegt nun der gleiche Quintfall auf den Grundtönen a - d - g - c zu Grunde, und obwohl sich die harmonischen Bezüge, der Satz und der melodische Verlauf unterscheiden, ist jetzt beiden Einheiten ein ähnlicher Duktus zu eigen. In den Taktgruppen T.8b - T.11 und T.16 - T.19 findet sich eine genaue Entsprechung sowohl im Satz als auch in den Funktionen.

T.8b - T.11: ( S7 Sp7 D7 ) D

T.16 - T.19: S7 Sp7 D7 T

Durch das Zusammenfassen des Kadenzabschlusses von T.8a und des Beginns der Ausweichung von T.8b zu ein und dem selben, Abschluss und Neubeginn vereinenden Takt (T.8) wird mit der so entstehenden Siebentaktigkeit eine im Verlaufe des Praeludiums sonst zu sehr in den Vordergrund rückende Symmetrie von Vier- und Achttaktgruppen verhindert.

Der Spannungsverlauf verdichtet sich in den folgenden vier Takten 20 -23. Dies geschieht, indem vier dissonante Akkorde aufeinander folgen,ohne dass dazwischen eine Entspannung stattfindet.

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Hier entsteht der spannungsreichste Moment des Stückes. Da der Folgeakkord jeder Dissonanz anstatt eine Auflösung zu bringen seinerseits eine neue, stärkere Dissonanz bildet, wirkt diese Passage auf den Hörer wie ein Umherirren. Es scheint unklar, wohin das Geschehen steuert.

Direkt im Anschluss klart die Stimmung auf. Zwar erklingt immer noch keine Auflösung, die Akkordfolge lässt jedoch einen gewissen Ablauf vorausahnen. Das liegt auch an dem Grundton der Dominante, der sich in den acht Takten 24 - 31 quasi als Orgelpunkt im Bass befindet und die Erwartung auf den Tonikagrundton in dieser Zeit aufrecht erhält. In T.32 wird diese Erwartung erfüllt. Die Takte 24 - 31 lassen sich in zwei Viertaktgruppen gliedern, die sich jeweils in ihrer Wirkung gleichen, die Schlusskadenz der Takte 32 - 35 vorzubereiten. Die Takte 26/27 und 30/31 sind identisch, funktionsharmonisch unterscheiden sich die beiden Viertaktgruppen durch die Funktion ihres jeweiligen ersten Taktes. In T.24 erklingt ein D7 in T.28 ein Doppel-Dv über dem Dominantgrundton. Dies hat unterschiedliche Stimmführungen des jeweils ersten Taktpaares jeder Viertaktgruppe (T.24/25, Sopran: Quintton der D in den Sextton des Dominantquartsextakkordes - T.28/29, Terzton des Doppel-Dv in den Grundton des Dominantquartsextakkordes) zur Folge. All diese Sachverhalte lassen die zweite Viertaktgruppe wie ein nochmaliges Ansetzen zur Auflösung ab T.32 wirken, jedoch mit gesteigerten, energiereicheren Mitteln. Der dennoch sehr starke Zusammenhang der Takte 34 - 31 wird dadurch erreicht, dass bis auf den Doppel-Dv in T.28 nur Modifikationen der Dominante (Dominantseptakkorde mit und ohne Quartvorhalt, Dominantquartsextakkorde) erklingen.

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Die Auflösung der so aufgebauten Spannung geschieht in T.32 nicht direkt. Vielmehr erklingt in den Takten 32 - 35 eine komplette Kadenz in C-dur, beginnend mit der Zwischendominante zur Subdominante anstatt der in T.32 erwarteten Tonika.

Um die Schlusswirkung zu verstärken, befindet sich während der Kadenz der Grundton C als Orgelpunkt im Bass. Außerdem wird die bis hierher vorherrschende Struktur der Akkordbrechung aufgegeben.

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Die Akkorde werden zwar nach wie vor gebrochen, jetzt jedoch auch abwärts, jeweils eine Umkehrung tiefer. Das Geschehen wiederholt sich nicht mehr in jedem Takt, sondern es handelt sich nun jeweils um einen größeren Bogen, was den Zusammenhang und den Drang zum Schlussakkord verstärkt.

Im vorletzten Takt erklingt eine der stärksten Dissonanzen des Stückes. Die große Septime, die durch den Tonikagrundton des Basses und den Terzton der Dominante im Tenor entsteht, sorgt dafür, dass der Schluss des Praeludiums den vorigen Spannungsverläufen entsprechend eine starke Wirkung erhält.

Es schließt sich der Kreis, denn diese Kadenz findet ihre Entsprechung in den ersten vier Takten der Praeludiums.